Auf einer anderen Ebene

Auch wenn die Behinderung der kleinen Schwester sie anfangs erschütterte: Später erwiesen ihre „großen“ Kinder sich für Nicole K. als Kraftquelle.

Maya kam als unser drittes Kind an Weihnachten 2005, sechs Wochen zu früh, nach einer völlig unauffälligen Schwangerschaft zur Welt. Dass der Mutterkuchen sich bei der Geburt als zu klein entpuppte und Maya Untergewicht hatte, führten meine Kollegen auf „vermehrten Stress“ zurück; neben einem Teilzeitjob als Ärztin im Krankenhaus hatte ich mich noch um die beiden „großen“ Kinder Lilian (6) und Julia (4) sowie um den Hausbau gekümmert.

Nachträglich empfand ich deswegen bedrückende Schuldgefühle. Hätte ich durch mehr körperliche Schonung, durch mehr Zeit für mich die Frühgeburt verhindern können? Aber ich hatte mich doch so gut gefühlt!

Sieben Wochen, 60 Kilometer

Zeit, um die Frühgeburt zu verarbeiten, blieb weder uns Eltern noch den Geschwistern. Die Überforderung hatte schon damit angefangen, dass mein Frauenarzt mich Knall auf Fall in ein weit entferntes Krankenhaus zur Entbindung schickte; ihm war klar, dass Maya eine intensivmedizinische Überwachung benötigte. Und nach der Geburt musste Maya insgesamt sieben Wochen lang in der Kinderklinik bleiben. Der Winter und die geschlossene Schneedecke ließen die 60 Kilometer Entfernung von unserem Wohnort jedes Mal wie eine Expedition erscheinen. Mein Mann nahm seinen gesamten Jahresurlaub, um sich um die beiden völlig erschütterten Geschwister zu kümmern; sie durften ihre Schwester nur einmal durch eine Fensterscheibe sehen. Danach bekam erst Lilian Windpocken, dann Julia, so dass mein Mann mich nicht mehr mit ihnen besuchen konnte. Ich selbst übernachtete jeweils dreimal bei Maya in der Kinderklinik, dann eine Nacht zu Hause bei ihren Geschwistern. Kein Kind sollte allein gelassen werden, dachten wir uns.

Trotzdem zeigten die beiden „Großen“ bald deutliche Spuren von Überforderung. Bei Lilian ließen die Leistungen in der Schule im Lauf des Jahres deutlich nach; Julia entwickelte sich zu ei­nem Fingernägel kauenden, verschreckten Kind.

„Haben Sie damit ein Problem?“

Auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus drehte sich alles nur um Maya. Trotz der zweimal wöchentlichen Bobath-Therapie verlief ihre Entwicklung deutlich verzögert. Ich fühlte mich total überfordert und unerträglich schuldig; mein Mann, beruflich als Oberarzt in der Chirurgie mit nicht voll besetzten Stellen total eingespannt, war mir nur bedingt eine Stütze. Ich wusste nicht mehr, wie ich den Kindern gerecht werden sollte, zweifelte an meiner Erziehungskompetenz und fühlte mich als Versagerin. Zumal die Therapeuten mir wegen Mayas mangelnder motorischer und sprachlicher Fortschritte ständig Vorhaltungen machten: „Sie üben mit Maya zu wenig!“ Und: „Sie füttern Maya falsch!“ Gleichzeitig musste ich mir Sprüche anhören wie: „Jetzt reg’ dich mal nicht so auf.“ Ich sei ja wohl ein wenig hysterisch. Oder: „Sie müssen akzeptieren, dass Kinder sich unterschiedlich entwickeln.“ Ob ich damit ein Problem habe?

Dass unsere Lage sich inzwischen entspannt hat, verdanken wir vor allem der endgültigen Diagnose für Mayas Probleme. Zuerst war es nur ein Verdacht aufgrund gewisser äußerer Merkmale, bis sich dann nach ihrem zweiten Geburtstag bestätigte: Sie hat das (äußerst seltene) Cornelia-de-Lange-Syndrom. Es erklärt Mayas Frühgeburt und Untergewicht, die muskuläre Schwäche im Mundbereich, ihre Entwicklungsverzögerung und ihre fehlende Sprachentwicklung; manche Kinder mit diesem Syndrom lernen nie sprechen. Ein winziger Gendefekt erwies sich sogar als Erstbeschreibung; bis dahin war kein Mensch auf der Welt mit diesem Defekt bekannt. Endlich wusste ich, dass nicht ich schuld war an den Leiden der vergangenen Jahre, sondern eine Laune der Natur!

Die Schwestern sind die Größten

Langsam komme ich wieder zu mir. Ich kann Maya nehmen wie sie ist, entspannter mit ihr umgehen und spüre nicht mehr den ständigen Druck zu üben, üben und üben. Im Gegenteil: Ich genieße das Zusammensein mit ihr. Inzwischen arbeite ich hin und wieder als Praxisvertretung für einen niedergelassenen Kollegen. (Auch wenn meine Schwiegereltern gelegentlich durchblicken lassen, sie fänden meine „Arbeiterei“ sehr egoistisch; ich solle lieber mein behindertes Kind fördern …) Das ist für mich eine gute Möglichkeit, mal abzuschalten und an etwas anderes zu denken. Maya besucht in dieser Zeit eine Kinderkrippe und fühlt sich sehr wohl. Ich habe sogar das Gefühl, dass der Umgang mit gleichaltrigen Kindern sie wesentlich effektiver fördert als die Einzelarbeit mit einer Therapeutin.

Durch Mayas Krippe habe ich auch wieder mehr Zeit für ihre Geschwister. Die beiden gaben mir über die Jahre hinweg viel Kraft und Mut und kümmerten sich liebevoll um ihre behinderte Schwester. Sie zeigen eine unglaubliche Geduld, trösten Maya sofort und beschützen sie, wenn ich manchmal über ihren Wutanfällen in Weißglut gerate. Wenn Maya weint oder traurig ist, versuchen sie ihr zu helfen oder kommen vorwurfsvoll zu mir. Sie zeigen fast immer Verständnis, wenn ich ihnen einen Wunsch abschlagen muss, weil Maya mich gerade dringender braucht. Sie nehmen ihr viel zu viel ab. Kaum zeigt Maya zum Beispiel die Gebärde für „Schnuller“, schon springt eine der „Großen“, obwohl Maya ihn auch selbst holen könnte.

Einmal kam Julia völlig aufgelöst vom Schwimmunterricht im Turnverein zurück. Sie hatte sich unter der Dusche mit einer Freundin geschlagen. Die hatte erklärt, sie sei froh, keine behinderte Schwester zu haben, vor allem wenn sie so blöd aussehe wie Maya. Maya revanchiert sich dafür auf ihre Art. Wenn ich mal mit den „Großen“ schimpfe oder wenn sie weinen, kommt Maya sofort und kuschelt mit ihnen. Überhaupt ist das Kuscheln mit den Schwestern für Maya das Höchste. Und umgekehrt ist für Lilian und Julia das Kuscheln mit Maya ein Ausgleich und Rückzug von Schwierigkeiten mit der Schule, Freunden oder den Eltern. Ganz besonders genießen sie es, wenn Maya abends noch kurz in ihr Bett zum Kuscheln kommen kann; dann wird auch gelacht und gegaggert. Irgendwie können sich die Kinder auf einer anderen Ebene mit Maya verständigen als wir Erwachsenen. Maya winkt mir dann aus dem Bett zu: Ich soll bitte gehen, sie will allein mit ihren Schwestern bleiben. Das macht die beiden schrecklich stolz.

Als die Diagnose Cornelia-de-Lange-Syndrom fest stand, sprachen Julia und Lilian zwar oft davon, dass es schön wäre, wenn Maya nicht behindert wäre. Heute glaube ich, dass sie damit eher meine Seufzer nachplapperten. In der folgenden Zeit beobachteten wir immer wieder, wie sie „Vater, Mutter, behindertes Kind“ spielten, egal ob mit Lego, Barbie oder Playmobil. Und mittlerweile finden sie Maya, so wie sie ist, „normal“ und können damit gut umgehen. Auch deswegen habe ich den Gedanken aufgegeben, Maya unter der Woche ins Internat zu geben; das könnte ich Lilian und Julia nicht antun.

Gut getan haben mir auch

  • meine besten Freundinnen aus der Schulzeit, die sich viel Zeit für Gespräche mit mir nahmen. Bei ihnen konnte ich mich, wenn ich an meine Grenzen kam, ausweinen und meine Sorgen los werden.
  • der Austausch mit Müttern von anderen „entwicklungsverzögerten“ Kindern, die ich durch die Therapien mit Maya kennen lernte.
  • eine psychotherapeutische Behandlung, die ich mir eine Zeit lang gönnte.

Momentan schöpfe ich sehr viel Kraft aus meiner Arbeit; dabei kann ich wieder die sein, die ich mal war. Zudem mache ich jeden Mittwoch mit einer Freundin Aqua-Jogging und genehmige mir ein- bis zweimal im Jahr eine Reise ohne Familie, zum Beispiel mit dem Alpenverein oder dem „Kunstforum“. Dabei genieße ich es, mich nur um mich kümmern zu müssen, gleichzeitig bei Bedarf aber auch „Ansprache“ zu haben.

Nicole K.